Kiezmenschen

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Auf 'ne Buddel ...

Mareike Dere vom Kiosk Mittenmang

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Sie war so was wie der Dorfplatz des Kiezes. Abhängen an der „Esso“: Absoluter Kult. Nachdem die Tanke unweit des Spielbudenplatzes abgerissen wurde, suchten die Leute einen anderen Ort. Und fanden ihn. Nur sehr viel kleiner. Den Kiosk „Mittenmang“ an der Davidstraße, liebevoll die „kleine Esso“ vom Kiez genannt.
Für Chefin Mareike Dere (54) eine große Ehre, mit der sie nicht gerechnet hätte. Verließ sie den Laden anfangs doch keinen Abend, ohne zu weinen. Die flippige Frau mit dem wilden Lockenkopf berichtet vom Ärger um die Kioske auf dem Kiez und was sich ändern müsste. Von komasaufenden Kunden, solchen, die blankziehen und der einen Frau, die sie nicht vergessen wird.
Die Kiosk-Chefin erzählt vom Geschäft in der gegenüberliegenden Herbertstraße, der Teenie-Droge Lachgas, Engländern im Peniskostüm und dem historischen Schatz, der sich unter dem Kiosk verbirgt. Und sie verrät, warum sie anfangs jeden Tag weinen musste, ihr Glück nun aber gefunden hat.

Kult-Bodyguard Eddy Kante

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Mit 14 schleppte Jürgen, sein Cousin, „Ball Pompös“ an. Eddy erinnert sich noch, wie er die Nadel vorsichtig auf die Platte niederließ. Das Knistern. Die ersten Töne. Und dann diese Stimme. Es hatte ihn sofort voll erwischt. Seine Liebe zu Udo Lindenberg ging so weit, dass er sich den Namen des Sängers auf den Oberarm tätowieren ließ und ihn bis in die Garderobe verfolgte. „Ich arbeite für Udo Lindenberg“, prahle Eddy schon als junger Mann. Damals noch weit entfernt von der Realität. Er war Lude und stadtbekannter Schläger.
Kult-Bodyguard Eddy Kante (64) berichtet offen über seine Kindheit, die Schläge des Alten. Über seine kriminelle Vergangenheit und wie er nach dem Knast an der Seite des Panikrockers landete. Er erzählt von seinem Leben mit Udo Lindenberg, von nächtlichen Touren mit Tarnmütze oder Perücke. Von dem bitteren Zerwürfnis, seinem großen Wunsch und wie er sich trotz schwerer Krankheit zurück ins Leben kämpft.

Ulli Koch (65), Putzkraft im „Golden Pudel Club“.

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Sie nannten ihn „Magnum für Arme“ – damals in Santa Fu. Wegen seiner auffälligen Hawaiihemden und Shorts. Ein korrekter Typ, der sein Wort hielt und immer einen Weg fand, Stoff in die Zelle zu schmuggeln. Heute sitzt da ein hagerer Mann mit grauem Haar und Bart im Putzlicht des „Golden Pudel Club“. Die Augen müde. Die Stimme sanft. Ulli Koch ist 65 Jahre alt und Putzkraft. „Die gute Seele des Pudels“, sagen die Leute. Ein Kiez-Urgestein mit bewegtem Leben. Ulli saß hinter Gittern mit Konrad Kujau, dem Fälscher der „Hitler-Tagebücher“, betrank sich mit Campino und stand für „Tocotronic“ vor der Kamera. Dass er noch lebt, grenzt an ein Wunder. Dreimal wäre er fast gestorben.

Ulli berichtet von seiner Zeit im Heim und den Jungs, die er später hinter Gittern wiedertraf. Von Zigeunern, die ihn „abrichteten“, Diebestouren im feinen Zwirn und seiner Zeit im Knast. Wie er Drogen in die Zelle schmuggelte, wo er sie versteckte und warum man ihn nie erwischte. Er berichtete von Koks auf Kampnagel, dem Leben in der Hafenstraße, seiner Heroinsucht und den Zusammenbrüchen, die ihn fast das Leben gekostet hätten. Und vor allem erzählt er vom „Pudel“ und seinen Menschen. Wie er Nina Hagen traf, Wodka mit Campino trank und für „Tocotronic“ ein Musikvideo drehte.

Pfandleiherin Nadja vom Leihaus an der Reeperbahn.

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Ein stürmischer, nasskalter Tag im Herbst. Im Unterhemd stürmt ein Mann herein. Er schwitzt, der Kopf hochrot. Schwer atmend legt der Herr eine Uhr auf den Tresen. „Alles in Ordnung bei ihnen?“, erkundigt sich Nadja. Der Mann genervt: „Mach mal schnell hier. Ich bin gerade bei der Susi gegenüber. Die ist so geil. Für 50 Euro mehr macht die alles.“ Nadja lacht.
Eine Situation, die sie nie vergessen wird. Obwohl sie schon so einiges gesehen hat in der Filiale an der Reeperbahn. Die 34-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, ist Pfandleiherin bei „Grüne’s Leihhäuser“. Sie erlebt jeden Tag Menschen in Not. Manche mit kleineren Sorgen, andere, die ihren wertvollsten Besitz verpfänden müssen.

Nadja berichtet von ihrem zweiten Arbeitstag, der sie schlagartig in die Welt des Kiezes katapultierte. Von Kunden, die täglich kommen, manche sogar mehrfach am Tag. Von höchst speziellem Pfand und dem wertvollsten „atemberaubenden“ Stück, das sie mal annahm. Sie erzählt von der Not ihrer Kunden und den Schicksalen, die sie ganz besonders berührt haben. Und auch von Beschimpfungen und dem einen Mal, als es brenzlig für sie wurde. Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen die Pfandleiherin in der Filiale von „Grüne’s Leihhäuser“ an der Reeperbahn.

Carolin Schultze - Mitinhaberin vom Kult-Imbiss „Lucullus“.

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Carolin mag Wurst. Dass sie sie irgendwann über haben könnte – für sie unvorstellbar. Jeden zweiten Tag isst sie eine. Mindestens. „Ich muss ja auch probieren, ob sie noch schmecken.“ Klar, Qualitätskontrolle. Aber nach so vielen Jahren? Da hat man ja vielleicht das Bedürfnis zum Vegetarier zu werden. Carolin reißt die Augen auf. „Ich? Vegetarier?“ Sie lacht eine donnernde, tiefe Lache. „Noch nicht mal vielleicht.“ Carolin Schultze ist die Wurst-Königin vom Kiez. Seit 30 Jahren betreibt sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Kult-Imbiss „Lucullus“ an der Reeperbahn/ Ecke Davidstraße.

Die Wurst-Chefin berichtet von ihrer Kindheit im Wohnwagen, von Krokodil-Ringkämpfen auf Volksfesten, dem Aufwachsen zwischen Ankommen und Aufbrechen. Von 35 Schulen im Jahr und dem Moment, als sie sesshaft wurde. Sie erzählt von prügelnden Gästen, den Schattenseiten des Jobs und einem Promi, den sie mal retten musste. Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen Carolin Schultze in ihrem kleinen Büro zwischen Wurst-Bude und öffentlicher Toilette.

Sarah Kucher und Mario Wiescher

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Der Kiez ist seit jeher ein Amüsierviertel. Für Sarah ein funktionierendes Ökosystem von leben und leben lassen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Bars, Clubs und Konzerthäuser verschwinden. Stattdessen Dönerbuden, Kioske und Hotels.
„Gefühlt leichtfertig werden Kulturräume einfach abgeschafft“, sagt Sarah Kucher (40). Gemeinsam mit ihrem Freund Mario Wiescher (45) ist sie Teil des neuen Führungsteams von „Docks“, „Prinzenbar“, „Kaiserkeller“ und „Grosse Freiheit 36“. Die Club-Kenner berichten von St. Pauli im Wandel und Clubs in der Krise. Vom Molotow, das vor dem Aus steht, weil es einem Boutique-Hotel weichen soll. Und den Sternbrücken-Clubs, die raus müssen.

Sie erzählen von den schönsten Momenten im Musikbusiness, von absurden Wünschen der Künstler und von der „Schwurbel-Affäre“, die sie bis heute verfolgt. Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen die Club-Kenner in der „Prinzenbar“ auf dem Kiez.

Fiona, Stripperin aus dem "Pearls"

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Fiona mag es im Mittelpunkt zu stehen. Sie präsentiert gerne ihren schlanken, tätowierten Körper. Macht Spagat auf den Tischen, räkelt sich kopfüber an der Stange und lässt langsam die Hüllen fallen. Die Frau mit den langen, rot gefärbten Haaren ist Stripperin und Managerin im „Pearls“ auf der Reeperbahn. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt die 29-Jährige. Doch es ist auch ein harter Job.
Offen berichtet die Tänzerin von übergriffigen Gästen, die nahezu jeden Abend in die Schranken gewiesen werden müssen. Von weinenden Kolleginnen und den Sprüchen der Männer. Von ihrem Lieblings-Kostüm und ihrer persönlichen Grenze. Von ihrer Ausbildung im Tierheim, wie ihre Familien zu ihrem Job steht und von dem Tag, als sie ihr linkes Ohr verlor. Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen die Stripperin im „Pearls“ auf dem Kiez.

Götz Barner

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Im Takt seines Ganges schwingt der weiße, fast bodenlange Fellmantel die Davidstraße
entlang. Darunter weißes Hemd, weißer Anzug, weißes Haar. So kennen die Menschen St.
Paulis „The White Dandy“. Ein Kiez-Original, Lebenskünstler, Freigeist sei er, so sagen die
Leute. Doch das hört er nicht gerne. „Ich bin kein Objekt. Ich bin einfach nur Götz Barner. Ein Mensch, der seit fast 40 Jahren auf dem Kiez wohnt.“ Dabei könnte sein Leben Bände füllen.

Götz berichtet von Drogenarien, Sexorgien bei Bhagwan in Indien und revolutionären Bühnenauftritten. Von der Zeit als er noch „Bruder Barner“ war und eine Ausbildung zum Diakon machte. Von den Jahren, in denen er mit Corny Littmann und der schwulen Theatergruppe „Brühwarm“ durch die Lande tourte, das Jugendamt die Ausweise vor der Tür kontrollierte und sie schrill waren „bis zum geht nicht mehr“.

Er berichtet von seiner Zeit mit Rio Reiser und seinem Haschischbeet hinter dem „Ton-Steine-Scherben“-Haus in Fresenhagen. Von den Jahren, als er Schmuck für große Unternehmen fertigte. Und vom Kiez, „der Leiche, die man pflegt und künstlich beatmet.“ Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen den „White Dandy“ im „Erotic Art Museum“ auf St. Pauli.

Herbert Wisnewski Wirt des Piccadilly

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Heinz-Diego, Domenica, Horst. Alle sind gegangen. Herbert schüttelt traurig den Kopf. Kein einziger seiner alten Weggefährten sei noch am Leben. „Das schmerzt mich sehr", sagt der Mann im gestreiften Hemd und Lederweste. Auf dem Kopf einen Hamburger Elbsegler. Vorbei die Zeiten, in denen ein entblößter Schwertschlucker die Gäste zum Toben brachte und Deutschlands bekannteste Hure ihm ihre Sorgen über den Tresen hinweg anvertraute. Herbert Wisnewski (83) ist seit 48 Jahren Wirt des „Piccadilly" an der Silbersacktwiete und verrät, wie es mit Hamburgs ältester Schwulenkneipe weitergeht.

Herbert berichtet von seiner Kindheit in Erfurt. Mit der dominanten Großmutter, die ihn häufig schlug. Wie er fürs Theater entdeckt wurde und später als „Blätterteig-König“ nach Hamburg kam. Von den schweren Anfangszeiten des „Piccadilly“. Als Paragraf 175 „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte. Zivilbeamte der Fahndungskommission „Homo“ das Treiben in Schwulenkneipen beobachteten. Selbst das Tanzen von Homosexuellen hart bestraft wurde. Von seinem Streit mit der einzigen Frau, die damals den Laden betreten durfte. Von prominenten Gästen, ausufernden Festen und dem schönsten Moment seines Lebens.

Herbergsvater Olli Zeriadtke

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Er hat die Zeiten der „Nutella-Bande“ und „GmbH“ auf dem Kiez erlebt, war Koberer, Türsteher, Inkasso-Dienstleister und „durch Zufall“ auch mal Zuhälter. Einer, der auch mal zulangte, „wenn es sein musste.“ Eine klassische Nachtleben-Karriere auf St. Pauli. Kaum zu glauben, wenn man Olli Zeriadtke (55) erlebt. Heute ist er Herbergsvater. Einer, der sich um die Menschen am Rande der Gesellschaft kümmert. Er sagt, er sei eigentlich schon immer so gewesen, der Kiez habe sein eigentliches Ich lange Zeit unterdrückt.
Der Mann mit Tätowierungen, Glatze, Bart und breitem Grinsen berichtet von seinem ersten Besuch auf dem Kiez. Mit seinem Mofa und dem ersten Lehrlingsgehalt in der Tasche, dass er für etwas ganz Besonderes ausgeben wollte. Von seinem ersten Job mit 16 im Puff. Der Zeit als Türsteher und dieser einen Nacht, die blutig endete. Welcher Spruch als Koberer vor dem Bordell immer funktionierte und wie er selbst zum Zuhälter wurde. Er erzählt von der Zeit, als er als Inkasso-Dienstleister „auch mal zuschlug“. Von seinem „soliden Leben“. Mit Frau, drei Töchtern und eigener Firma. Und von seinem neuen sozialen Job, in dem er seine Erfüllung fand.

Die MOPO-Reporter Wiebke Bromberg und Marius Röer trafen den Mann mit der zuweilen dubiosen Vergangenheit in dessen Wohnung an der Reeperbahn.

Über diesen Podcast

Von Rotlicht bis Blaulicht, von Glamour bis Gosse – jede Woche trifft die MOPO Menschen, die den Hamburger Kiez prägen. Sie nehmen uns mit in ihre Welt, plaudern offen über Persönliches und legendäre Geschichten. Diese Menschen sind es, die den weltweiten Ruf von St. Pauli ausmachen. Herzlich, persönlich, nah dran. Der Podcast erscheint begleitend zur Serie „Kiezmenschen“ in der Wochenendausgabe der Hamburger Morgenpost.

von und mit Hamburger Morgenpost

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